Freitag, 7. Januar 2011

Tagesanzeiger: Albtraum auf Rädern

Nach einem Monat Winterschlaf meldet sich der Zeitungsjunge wieder. Aus dem wohligen Winterschlummer gerissen hat mich der folgende Artikel von Reto Hunziker im Online-Auftritt des Tagesanzeigers.

"An Bahnhöfen und Flughäfen wimmelt es nur so von Rollkoffern. Ein grosses Ärgernis, findet Tagesanzeiger.ch/Newsnetz-Reporter Reto Hunziker."
Hm. Was denn nun? Es steht nirgends etwas von "Kolumne" oder "Glosse". Wieso dann diese scheinbare Distanzierung im Aufreisser?
"Manchmal wünschte ich dennoch, das Rad wäre nie erfunden worden. Nämlich dann, wenn ich zur Rush Hour quer durch die Halle des Zürcher Hauptbahnhofes eile, um mein Tram noch zu erwischen.
In diesem Moment gleiche ich der Spielfigur eines alten Jump&Run-Spiels: Ich springe, ich weiche aus, ich beschleunige, um Schritte später abrupt zu halten. Schuld an diesem unverhofften Hindernislauf: der Rollkoffer."

Eine spannende Aussage. Als Exil-Zürcher geniesse ich es, jeweils zur Stosszeit durch den Hauptbahnhof zu marschieren. Denn in Zürich wissen die meisten Leute, wie man sich bewegt. Wenn man etwas voraus schaut, ist es kein Problem, sich flüssig durch die Menschenmassen zu bewegen.
Herr Hunziker fehlt also offenbar einfach die Weitsicht. Ich hoffe mal, dass er nie mit dem Auto in die Stadt fährt!
Dass Herr Hunziker versucht, seinen eigenen Mangel an Voraussicht mit der Existenz der Rollkoffer zu begründen... ich erspare mir hier einen weiteren Kommentar.
"Kaum ein Zug- oder Flugreisender, der nicht eines dieser Vehikel hinter sich herzieht. Ob massig oder petit, ob mit harter Schale oder weicher, der Rollkoffer, dieser verlängerte Arm der Gehetzten, verhindert anderen Passanten jede Ideallinie und erhöht den Umgehungsweg einer Person um ein Vielfaches. Rollkoffer sind quasi die Pferdeanhänger des Fussvolkes, sie verlangsamen den Verkehr beträchtlich. Im Zug krachen sie ausserdem gegen Sitze, Türrahmen und Ablagegitter, auf dem Perron gegen Hunde und Haxen.
Die erwähnten Punkte sind nicht von der Hand zu weisen. Ursache des Übels sind aber nicht die Rollkoffer, sondern rücksichtslose Besitzer ebendieser. Hier sucht der Autor also die Schuld schon wieder an der falschen Stelle.
"Zwar gibt es dieses Unding schon länger, doch erst seit wenigen Jahren ist es scheinbar zum unverzichtbaren Reise-Accessoire geworden. Weil heute die Räder in alle Richtungen und ohne zu blockieren rollen können und die ausziehbaren Griffe nicht mehr so schnell abbrechen, führt Krethi und Plethi einen Rollkoffer mit sich. Weil sie alle nicht so schwer tragen wollen."
Was bedeutet "seit wenigen Jahren"? Die Anzahl der Rollkoffer im Verhältnis zu anderen Gepäckstücken hat in den letzten 10 Jahren wohl nicht mehr stark zugenommen.
"Dass viele Rollkoffer so klein sind, dass es praktischer wäre, sie unter dem Arm zu tragen, scheint dabei kein Widerspruch. Und so ziehen die Rückenschoner rollende Aktenkoffer hinter sich her und ihre Kinder haben nicht etwa Rucksäcke, sondern Mini-Rollkoffer-Versionen von Hello Kitty oder Spongebob."
Hm. Also ich weiss nicht, welche Rollkoffer Herr Hunziker meint. Die allermeisten Rollkoffer, die ich sehe, sind eindeutig zu gross, um sie bequem über grössere Strecken zu tragen. Ganz abgesehen vom Gewicht. Nur schon 2kg an einer Schulter bzw. 5kg am Rücken beginnen auch bei einer erwachsenen Person nach einiger Zeit ganz schön zu ziehen. Ganz abgesehen von der durch die Träger zerknitterten Jacke. Und gerade bei Kindern wird immer wieder betont, wie wichtig es ist, den Rücken zu entlasten. Also Kinder: Wenn Herr Hunziker durch den Zürcher HB rennen will, tragt euer Gepäck am Rücken! Es müssen schliesslich Prioritäten gesetzt werden.
"Klar, es geht um ihre Gesundheit."
Wow! Yeah, ein echter Lichtblick!
"Doch was ist mit der Gesundheit der anderen?"
Schade, war also nur ein kurzer, lichter Augenblick. Welche Gesundheit meint er denn? Die eigene?
"Die wird von Rollkoffer-Rowdies doch gerade gefährdet. Wie viele Zehen, Schienbeine und Achillesfersen fielen diesem Lastfahrzeug schon zum Opfer... Bloss weil deren Besitzer auf ihren Rücken achten und mit der Einstellung «nach mir die Schimpfwut» durch die Hallen schreiten."
Hm. Entweder hat Herr Hunziker enormes Pech, er bauscht ein einmaliges Erlebnis enorm auf oder aber er hat die Gabe, jeweils anderen Leuten genau vor die Füsse (bzw. Räder) zu rennen.
"Sogar das Schweizer Militär hat die Vollpackung abgeschafft und sich Rollkoffer zugelegt."
Eine der wenigen sinnvollen Entscheidungen. Ich durfte noch die 95er Vollpackung geniessen. Eine Einrichtung die sich mit angeschnalltem Rucksack kaum so einstellen liess, dass der Beckengurt seine Funktion übernehmen konnte. Ein absoluter Rückenkiller!
"Die Folge: Die sperrigen Teile blockieren Durch- und Eingänge, so dass zivile Passagiere warten müssen, bis diese herumbugsiert worden sind.
Das ist nun ehrlich gesagt eine ziemlich schwachsinnige Aussage. Offensichtlich musste Herr Hunziker noch nie in einem Zug mit vielen Soldaten mit GT reisen. Dieses unförmige Paket mit den vielen Bändeln die sich gerne ineinander verhakten. Selbst ein schlank gebauter Soldat konnte mit angeschnalltem GT nicht zwischen den Sitzen durch einen SBB-Wagon gehen, ohne mit den angeschnallten Seitentaschen links und rechts an zu stossen. Der Helm, der sich nur ausnahmsweise sicher befestigen liess, stellte eine permanente Verletzungsgefahr für die ganze Umgebung dar! Und was nun soll daran besser sein als an einem kompakten Rollkoffer?

Auch hier gilt: Personen, die mit ihren Rollkoffern die Durchgänge in den Zügen unpassierbar behindern, würden dies auch mit anderen Gepäckstücken tun. Nur ist ein Koffer erheblich leichter aus dem Weg zu bewegen, als dieses "Grundtrageinheit" genannte Ungeheuer!
"Kommt dazu, dass man mit einem Trolley-Koffer nicht gerade elegant ausschaut. Sogar der viel reisende und rückengeschädigte Lifestyle-Papst Tyler Brûlé findet, eine Tragtasche habe mehr Stil."
Naja. Ob ein Lifestyle-Papst hier der richtige Ratgeber ist? Es geht hier schliesslich darum, sein Gepäck möglichst effizient zu transportieren und nicht darum, auf dem Catwalk möglichst elegant auszusehen. Aber da muss halt jeder seine Prioritäten selber setzen.
"Was ist aus dem guten alten Rucksack geworden?"
 Oh ja, Rucksäcke! Tolle Idee! Das sind die Dinger, die man ins Gesicht kriegt, wenn sich der Träger umdreht. Die Dinger, die Kindern im Bus und Tram genau ins Gesicht drücken mit ihren Schnallen und Reissverschlüssen, weil die Träger nicht daran denken, in einer Menschenmenge den Rucksack in der Hand zu tragen oder zwischen die Füsse zu stellen.
"Warum zieht es heute jeder vor, etwas hinter sich herzuziehen, als es zu tragen? Montieren wir bald auch unsere Einkaufstüten, Zeitungen oder Portemonnaies auf fahrbare Untersätze?"
Einkaufstüten auf Rädern? Welch bahnbrechende Idee! Ich frage mich gerade, wie man das Ding nannte, mit dem meine Mutter bereits vor mehr als 30 Jahren ihre Einkäufe nach Hause zog. Und ich bin davon überzeugt, dass die Mafia inzwischen für ihre Geldkoffer von Aktentaschen auf Rollkoffer umgestiegen ist...


Fazit: Ein Artikel der überflüssigeren Sorte. Eine Person regt sich über irgend eine Kleinigkeit auf und weil diese Person gerade Journalist ist, wird das sogar noch in der Zeitung (bzw. im zugehörigen Online-Auftritt) veröffentlicht. Mit Journalismus hat dies jedoch herzlich wenig zu tun. Wenn man es wenigstens klar als "Glosse" (oder "Rant") gekennzeichnet hätte.

1 Kommentar: